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Hitzige Diskussion über Skrupellosigkeit und fehlenden Gemeinsinn in China

2011-10-18
Ein kleines Mädchen wird von zwei Autos überfahren und liegt blutend auf dem Asphalt. Fast 20 Passanten gehen ungerührt vorbei. Ein Video des Vorfalls erschüttert China und hat eine Diskussion über Skrupellosigkeit und fehlenden Gemeinsinn entfacht. Sind zu vielen Chinesen ihre Mitmenschen egal?

Die Aufnahmen einer Überwachungskamera, die derzeit im Internet kursieren, sind verstörend - und nichts für sensible Gemüter. Der Sender Southern Television Guangdong zeigte das Video erstmals in China. Es wurde am 13. Oktober in der südchinesischen Provinz Guangdong aufgezeichnet.
Da läuft ein kleines Mädchen mit roter Hose und schwarzer Bluse über eine schmale Marktstraße der Stadt Foshan. Das Kind schaut noch nach rechts, wendet seinen Kopf nach links - zu spät: Ein weißer Lieferwagen reißt die Zweijährige nieder und überfährt sie mit dem rechten Vorderreifen. Nur wenige Sekunden steht das Fahrzeug still, dann fährt es auch noch mit dem Hinterreifen über den kleinen Körper.

Ein schlimmer Fall von Fahrerflucht, denkt man. Doch das wirkliche Furchtbare ereignet sich danach: Insgesamt 18 Menschen kommen vorbei, bevor dem Kind geholfen wird. Fußgänger stolpern fast über das blutende Bündel - und unternehmen nichts. Räder und Motorräder umfahren das lästige Hindernis.

Unfassbar: Zwischendurch wird die kleine Yue Yue von einem zweiten Lieferwagen erfasst. Erst sechs Minuten nach dem ersten Zusammenstoß wird sie von einer 57-jährigen Müllsammlerin entdeckt und aufgehoben. In diesem Moment eilt auch die Mutter an den Unfallort. Sie hatte laut "China Daily" ihre Tochter im Kindergarten abgeholt und im Familiengeschäft gelassen, um schnell Wäsche abzuholen. Als sie zurückkehrte, war Yue Yue fort.

Das Kind wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Der Fahrer des weißen Lieferwagens wird von der Polizei festgenommen, der andere stellt sich am Montag den Behörden. Beide sagen bei der Vernehmung aus, sie hätten das Kind vor dem Aufprall nicht gesehen. Unbestätigten Meldungen zufolge soll einer der Männer während des Unfalls mit dem Handy telefoniert haben. Er habe sich später erkundigt, wie hoch die Summe sein könne, die er zahlen müsse, wenn das Kind überlebt, berichtete der britische "Independent".

Nicht gesehen, nichts gehört, Angst gehabt

Die Passanten, die das Kind im Stich ließen, meldeten sich nach und nach zu Wort. Der Fahrer eines Dreirads sagte laut "Guangzhou Daily", er habe weder das Mädchen noch irgendwelche Blutflecken gesehen. "Ich habe nichts erkannt, weil es so dunkel war."

Eine junge Frau, die mit ihrer eigenen Tochter an der Hand an Yue Yue vorbei schritt, sagte dem Bericht zufolge: "Das Mädchen blutete aus dem Mund und dem Ohr und weinte ein wenig. Ich war so verschreckt, und meine Tochter weinte aus Angst, deswegen ging ich weiter."

"Was ist mit den Menschen heutzutage los?", fragte der verzweifelte Vater der kleinen Yue Yue nach dem Unfall. "Die Gesellschaft ist so gleichgültig, so herzlos."

In den Medien entbrannte eine hitzige Diskussion um die Verrohung der chinesischen Gesellschaft, den vorherrschenden Egoismus und die mangelnde Hilfsbereitschaft, eine Welt, in der der Materialismus regiert und Barmherzigkeit nicht vorkommt. "Ihr Bastarde", empören sich YouTube-User, nachdem das Video aufgetaucht ist, "die Chinesen sollen in der Hölle schmoren".

Familiensinn über Gemeinsinn

"Alles, was außerhalb der Gruppe passiert, in der man sozialisiert wurde - also Familie, Freunde, Arbeitskollegen - ist für die meisten Chinesen unwichtig", sagt die Psychoanalytikerin Antje Haag.

Jahrelang hat die ehemalige Hamburger Oberärztin in der Volksrepublik als Dozentin für Psychotherapie gearbeitet. In ihrem Buch "Versuch über die moderne Seele Chinas" hat sie ihre Eindrücke geschildert. "Ich kenne diese offensichtliche Grausamkeit, den Mangel an Gemeinsinn und Barmherzigkeit. Ich habe mit vielen chinesischen und westlichen Kollegen darüber diskutiert, aber keine zufriedenstellende Erklärung erhalten."

Die Vermutung der Medizinerin: Wenn jemand im öffentlichen Raum einem anderen Menschen helfe, trete er gleichsam aus der Masse heraus und handele als Individuum: "Der Mut, aus dem Glied zu treten, ist aber in China kulturell und historisch bedingt nicht eben groß."

Wie langsam die Zivilgesellschaft sich in China durchsetzt, zeigt die extrem niedrige Zahl der ehrenamtlich Tätigen im Land: Laut einem Bericht des chinesischen Staatsrats aus dem Jahr 2007 engagieren sich nur etwa 1,8 Prozent der Chinesen freiwillig und unentgeltlich - in den europäischen Staaten sind es zwischen 35 und 40 Prozent.

Schon in den dreißiger Jahren beklagte der Philosoph Lin Yutang das Fehlen einer sozialen Gesinnung unter seinen Landsleuten. Familiensinn sei für Chinesen zentral, nicht der Gemeinsinn, schreibt Politikprofessor Thomas Heberer von der Uni Duisburg in einem Aufsatz über die Zivilgesellschaft in der Volksrepublik.

Kleine Kaiser ganz groß

Um Stereotypen vorzubeugen: Natürlich lieben Chinesen ihre Kinder. Gerade die umstrittene Ein-Kind-Politik der Regierung hat dazu geführt, dass die vielerorts einzigen Nachkommen chinesischer Paare verhätschelt, überfüttert, maximal gefördert und auf Leistung getrimmt werden. Die erste Generation dieser sogenannten "kleinen Kaiser" geriet zwischenzeitlich sogar in Verruf, weil sie übergewichtig war, ihre Eltern terrorisierte und sich vor allem durch Egoismus auszeichnete.

"China Today" zitiert aus einem staatlichen Untersuchungsbericht, wonach Eltern in erster Linie auf das Lernen achten und erst in zweiter Instanz auf die Gesundheit der Nachkommenschaft. Ethische und moralische Erziehung liegen abgeschlagen an Platz drei und vier. Viele Eltern, die sich so verhielten, seien traumatisiert von der Kulturrevolution in den Jahren 1966 bis 1976, als Bildung eine untergeordnete Rolle spielte, heißt es.

Laut einer im September 2011 vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Studie zur "Frauen- und Kindergesundheit" sterben in China jedes Jahr 300.000 Kinder unter fünf Jahren - mehr als ein Drittel von ihnen im eigenen Heim aufgrund fehlender medizinischer Versorgung. Vor allem in ländlichen Gebieten ist die ärztliche Betreuung vielerorts noch immer mangelhaft. Als häufigste Todesursachen werden Frühgeburten, angeborene Herzfehler und plötzlicher Erstickungstod angeführt.

 Ein Zeichen setzen

Die Behörden von Foshan übergaben der Retterin, der 57-jährigen Müllsammlerin Chen Xianmei, 10.000 Yuan Belohnung für ihr Engagement (rund 1144 Euro). Ein in Foshan ansässiges Unternehmen stellte je 50.000 Yuan (5728 Euro) für die Familie des Unfallopfers sowie die Retterin zur Verfügung. "Neben der Belohnung wollen wir Frau Chen auch einen Job mit ständigem Einkommen anbieten, um ein so vorbildliches Verhalten zu fördern", sagte ein Firmensprecher.

(Quelle: Spiegel-online,Autorin: Annette Langer)

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