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Leben in der Massensiedlung

2013-02-26
 Es sieht überall gleich aus. Links vom Fluss, rechts vom Fluss, an der Brücke, an der U-Bahn-Station. Überall ragen dieselben Hochhäuser aus beigefarbenem Beton in den Himmel, werfen dieselben grün verspiegelten Scheiben das Sonnenlicht zurück, tragen die Häuser Hauben aus Glas und Beton. 33 Reihen lang wiederholt sich dieser Anblick.

Durch die Siedlung läuft die Zhongtan Lu, eine vierspurige Straße, in der Mitte geteilt durch einen hüfthohen Metallzaun. An den Hauseingängen stehen kleine Wachhäuschen mit Welldächern aus Plastik, die Autos müssen vor den Schranken warten, bis sie von den Security Guards durchgelassen werden.

Eine Frau kommt angerannt. Sie streicht sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht, schnauft, prustet. "Entschuldige", sagt sie, "ich bin wieder falsch gelaufen." Julia Zheng wohnt schon seit einigen Jahren hier. Trotzdem kommt es vor, dass sie sich verläuft, so wie heute.

"Es sieht halt alles gleich aus", sagt die 50-Jährige und grinst schief. Das stimmt, die Siedlung ist eine mannigfache Wiederholung eines einzigen Entwurfs. Zwischen den Häusern führen Straßen und kleine Wege entlang, Orientierungspunkte gibt es keine. Wer nicht weiß, wo er hinmuss, ist hier verloren. Nicht nur die Bewohner, auch Taxifahrer verirren sich regelmäßig zwischen den Hochhäusern in Brilliant City.

                

 

Es sieht überall gleich aus. Links vom Fluss, rechts vom Fluss, an der Brücke, an der U-Bahn-Station. Überall ragen dieselben Hochhäuser aus beigefarbenem Beton in den Himmel, werfen dieselben grün verspiegelten Scheiben das Sonnenlicht zurück, tragen die Häuser Hauben aus Glas und Beton. 33 Reihen lang wiederholt sich dieser Anblick.

Durch die Siedlung läuft die Zhongtan Lu, eine vierspurige Straße, in der Mitte geteilt durch einen hüfthohen Metallzaun. An den Hauseingängen stehen kleine Wachhäuschen mit Welldächern aus Plastik, die Autos müssen vor den Schranken warten, bis sie von den Security Guards durchgelassen werden.

Eine Frau kommt angerannt. Sie streicht sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht, schnauft, prustet. "Entschuldige", sagt sie, "ich bin wieder falsch gelaufen." Julia Zheng wohnt schon seit einigen Jahren hier. Trotzdem kommt es vor, dass sie sich verläuft, so wie heute.

"Es sieht halt alles gleich aus", sagt die 50-Jährige und grinst schief. Das stimmt, die Siedlung ist eine mannigfache Wiederholung eines einzigen Entwurfs. Zwischen den Häusern führen Straßen und kleine Wege entlang, Orientierungspunkte gibt es keine. Wer nicht weiß, wo er hinmuss, ist hier verloren. Nicht nur die Bewohner, auch Taxifahrer verirren sich regelmäßig zwischen den Hochhäusern in Brilliant City.

Das Hochhaus-Konglomerat ist Shanghais größte Siedlung, über 50.000 Menschen leben hier am Suzhou Creek, dem Flussufer im Nordwesten der 24-Millionen-Stadt. Es gibt Schulen, Kindergärten, Supermärkte, ein Starbucks-Café, ein Sportzentrum und 11.000 Wohnungen.

Anonymität, Depressionen, Vereinsamung

Zwölf Jahre nach Baubeginn gilt die Stadt in der Stadt noch immer als Vorbild für modernes, urbanes Leben in China. Dutzende dieser Riesensiedlungen sind derzeit im Bau, darunter der Vanke City Garden in Shanghai, der Greentown Sincere Garden in Hangzhou und die Taihu International City in Wuxi. Die chinesischen Bewohner empfinden das Leben in der Massensiedlung als komfortabel verglichen mit den Hütten, in denen viele von ihnen vorher gelebt haben.

Doch Brilliant City, die "glitzernde Stadt", hat auch ihre Schattenseiten: Das Zusammenleben ist anonym, viele hier leiden unter Depressionen und Vereinsamung. Wie bei vielen chinesischen Häusern ist die Bauqualität schlecht, nach knapp zwölf Jahren sind einige der Türme schon renovierungsbedürftig.

Dennoch sind die Wohnungen in Brilliant City gefragt. Es sind Ein- bis Drei-Zimmer-Apartments, sie kosten im Schnitt vier bis fünf Millionen Renminbi, etwa 500.000 bis 750.000 Euro. Julia Zheng hat ihre Wohnung schon 2008 gekauft. Damals arbeitete die Chinesin noch als Wirtschaftsprüferin auf den Bermudas. "Ich wollte schon 2004 kaufen", sagt sie und zieht am Reißverschluss ihrer Jacke. "Ich wusste, dass die Immobilienpreise in Shanghai stark steigen würden", sagt sie.

Wegen ihres Jobs im Ausland kam sie aber erst vor fünf Jahren dazu, die Wohnung im 21. Stock zu kaufen. Drei Millionen Renminbi, etwa 375.000 Euro, bezahlte Julia Zheng damals für die 96 Quadratmeter. Die Wohnung mit der großen Fensterfront und dem Blick auf den Fluss ist heute schätzungsweise ein Viertel mehr wert.

Luxus auf Chinesisch

Julia Zheng ist nicht nur Anwohnerin, sondern auch Maklerin in Brilliant City. Sie vermietet zehn Apartments im Auftrag der Eigentümer, spricht auch mit der Hausverwaltung, wenn etwas kaputt ist. Von den rund 50.000 Bewohnern der Siedlung sind etwa fünf Prozent Ausländer.

Sie suchen gern über Julia Zheng nach einem Apartment, spricht sie doch perfekt Englisch, eine Seltenheit bei chinesischen Maklern. "Wei?", sagt sie, als das Telefon klingelt, "ja, bitte?" Wieder eine Interessentin, eine Kanadierin. Sie will am Nachmittag vorbeikommen, um sich ein Zimmer in einer Wohnung im 26. Stock anzuschauen.

Auch Nick Mackenzie hat über Julia Zheng ein Zimmer gemietet. An den immer gleichen Ausblick hat sich der 30-Jährige inzwischen gewöhnt, er lebt seit Herbst 2012 in Brilliant City. "Ja, es stimmt", sagt er und lacht, "für westliche Augen sieht das hier schlimm aus. Für Chinesen ist es aber Luxus." Mackenzie arbeitet als Englischlehrer, er braucht zur Arbeit 20 Minuten, von Tür zu Tür. Das ist ist einer Stadt wie Shanghai praktisch nichts.

Auf dem Weg zur U-Bahn kommt er an den letzten alten Häusern vorbei, die hier noch stehen: Es sind niedrige, einstöckige Gebäude. Viele von ihnen ähneln eher heruntergekommenen Hütten, ohne Kanalisation, manche gar ohne fließendes Wasser.

Auf der Straße ist Markt. Gurken, Radieschen und noch lebende Fische und Hühner werden zum Kauf angeboten. So sah es auch dort aus, wo heute Brilliant City steht. "In den alten Häusern haben die Menschen natürlich mehr vom Leben ihrer Nachbarn mitbekommen", sagt Nick Mackenzie. Doch das sei heute nicht mehr wichtig: "Die Leute wollen jetzt moderne Wohnungen, Bäder, Toiletten", sagt Nick Mackenzie.

Der Wohnraum ist günstig

Für ihn ist das Leben in Brilliant City sehr bequem. "Es ist alles da, was man braucht, Friseur, Starbucks, Supermärkte." Das sagt auch Julia Zheng: "Als ich klein war, lebten wir mit zehn Leuten in einem kleinen Raum, man konnte nicht aufrecht stehen, es gab keine Dusche. Dagegen ist das hier ein sehr hoher Lebensstandard."

Im Vergleich zu den Preisen, die direkt im Zentrum Shanghais zu zahlen sind, ist das Leben in Brilliant City nicht nur ein bequemes, sondern auch ein günstiges. Mo Nuur, ein Norweger, zahlt für seine 110-Quadratmeter-Wohnung 5700 Renminbi im Monat, etwa 710 Euro. "In der Innenstadt würde ich dafür mindestens 8000 Renminbi zahlen", sagt er.

Auch seine Wohnung in Brilliant City hat eine große Fensterfront, "ich schaue direkt in die Wolken", sagt der junge Mann. Für Julia Zheng ist das Teil des Problems. "Man verliert den Bezug zu den Dingen, wenn man nur in den Himmel schaut", sagt sie. "Wer länger hier lebt, verspürt weniger Drang zu kommunizieren", sagt sie, "viele sind hier depressiv geworden."

Pascal Hartmann vom Shanghaier Architektenbüro Logon gibt ihr recht: "Wegen der Hochhäuser entsteht der Austausch nicht mehr so natürlich wie in den alten Nachbarschaften", sagt er.

Wenig Platz für Individualität

Dabei ist es nicht so, dass es keine Möglichkeiten zur Begegnung gäbe: Die Architekten, von einem Shanghaier Büro namens Ecadi, das in anderen chinesischen Städten ebenfalls Brilliant Citys baut, haben zwischen den Häusern Spielplätze angelegt, frühmorgens machen die alten Frauen dort Tai-Chi und Gymnastik, es gibt einen Teich und Fitnessgeräte.

"Die Jungen sieht man trotzdem nicht", sagt Julia Zheng. "Die Architektur führt dazu, dass aus Nachbarn Fremde werden", findet sie. Dennoch ist die Kriminalitätsrate in Brilliant City gering. "Ab und zu wird geklaut", sagt der Sicherheitschef der Anlage, Qi Jianhua. "Wir haben Community-Manager, die zwischen den Bewohnern schlichten, wenn es Ärger gibt." Über 650 Menschen arbeiten in der Verwaltung der Stadt.

Die Wohnungen in Brilliant City haben ähnliche Grundrisse, es gibt wenig Raum für Individualität. Trotzdem werde die Siedlung angesichts der fortschreitenden Urbanisierung Chinas noch lange Vorbildcharakter haben, glaubt der deutsche Architekt Markus Diem, der mit seiner Firma Mudi ganz in der Nähe der Brilliant City logiert: "Die Aufgabe ist, schnell viel Wohnraum zu schaffen, egal wie."

8000 Siedlungen in den nächsten 20 Jahren

Das sagt auch Pascal Hartmann: "Projekte wie Brilliant City sind in China keine Ausnahme, sondern die Regel. Solche Wohnanlagen bleiben das Vorbild der Urbanisierung, denn sie befriedigen die Nachfrage nach erschwinglichem Wohnraum." Wegen des Platzmangels sei diese Bauform in China durchaus nachhaltig. "Wenn sich hier das deutsche Einfamilienhaus ausbreiten würde, wäre das eine umwelttechnische Katastrophe", sagt Hartmann.

China wird noch viele Brilliant Citys bauen. Im Jahr 2030 sollen den Prognosen zufolge eine Milliarde Chinesen in Städten leben. Zum Vergleich: Heute sind es etwa 600 Millionen.

"China braucht in den kommenden 20 Jahren also über 8000 Brilliant Citys, um den steten Strom in die Städte verkraften zu können", sagt Bert de Muynck, Urbanisierungsforscher bei "Moving Cities", einem Shanghaier Thinktank. "Es müsste also jeden Tag eine Brilliant City gebaut werden, um den Bedarf zu decken."

Nick Mackenzie, der Shanghaier Englischlehrer, will erst mal in der Riesensiedlung bleiben. Seit Kurzem hat er ein Aquarium. "Dann fühle ich mich nicht mehr allein", sagt er. Allein? Obwohl er über 50.000 Nachbarn in unmittelbarer Nähe hat? "Von denen kenne ich ja fast keinen", sagt er. Er zuckt die Achseln, als wolle er sagen, so ist das eben.

(Quelle:Die Welt am Sonntag)

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