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Peking - Guangzhou, 2298 km Im Zeitraffer durch ein Riesenland

2013-06-16
 ·  Die längste Hochgeschwindigkeitszugstrecke der Welt führt von Peking nach Guangzhou. Für die 2298 Kilometer durch chinesisches Kernland benötigt der Reisende nur acht Stunden. Wie sieht eigentlich der Fortschritt aus, wenn man an ihm vorbeirast?
                    2298 Kilometer von Peking nach Guangzhou in acht Stunden: Der Zug G79

Nach siebzehn Minuten leuchtet zum ersten Mal die rote Geschwindigkeitsanzeige auf: 308 km/h. Immer wenn der Zug später sein Tempo auf unter dreihundert Stundenkilometer drosselt, verschwindet die Anzeige wieder. So nüchtern, technisch und geschäftsmäßig die Leuchtschrift auch erst mal aussieht, so hat sie wie alles in diesem Zug in Wirklichkeit doch eine höchst spektakuläre Botschaft: Wir befinden uns auf einer Reise der Superlative, auf der alles Durchschnittliche keinen Platz haben darf - auf der längsten Hochgeschwindigkeitszugstrecke der Welt, 2298 Kilometer von Peking nach Guangzhou in acht Stunden. An Maos Geburtstag, dem 26. Dezember, war die Strecke eröffnet worden, und das hat seine Richtigkeit, weil der Vorsitzende in seiner Regierungszeit ein regelmäßiger Zugfahrer war, allerdings nur in Spezialzügen, die nachts bisweilen auf Militärflughäfen abgestellt wurden, damit er im Notfall den Standort schnell wechseln konnte. Außerdem hatte Mao erklärt, dass sich das chinesische Volk erhoben habe.

Zu dem Zeitpunkt, als die Geschwindigkeitsanzeige zum ersten Mal aufleuchtet, kann man im feinstaubdurchwirkten Dunst draußen gerade mal hundert Meter weit gucken. Es ist 10.17 Uhr morgens. Pünktlich um zehn hatte der Zug den Pekinger Westbahnhof verlassen, das wohl größte mit Chinoiserie-Deko verzierte Bauwerk der Stadt und einer der größten Bahnhöfe Asiens, konstruiert in den neunziger Jahren, mit Umrissen, die das chinesische Schriftzeichen für „Geschmack" ergeben.

Der gesamte Zug ist voll

Als sich der Zug ohne das geringste Ruckeln in Bewegung setzte, erklang eine freundliche Frauenstimme vom Band und erklärte zuerst auf Chinesisch und dann auf Englisch, dass der Zug aus sechzehn Wagen bestehe, die erste Klasse sich im zweiten und dritten Wagen befinde, die Business-Klasse im ersten und sechzehnten Wagen, dass die Außentemperatur zwei Grad unter Null betrage, dass Rauchen nicht erlaubt sei und dass man auf seine Kinder und den Spalt zwischen Zug und Bahnsteig achtgeben solle.

Draußen glitten die erdigen Farbtöne der Pekinger Randbezirke im wolkenlosen Dunst vorbei. Hinter dem fünften Pekinger Autobahnring werden neue Hochhäuser gebaut. Dann wurde der Dunst immer stärker, so dass das erdige Braun unten und das Himmelsblau oben immer mehr ineinander verschwammen. Immer rascher zogen kleine Hochhaus-Agglomerationen vorüber, Baugruben, schüttere kahle Bäume. Nach fünf Minuten kontrollierte eine junge Zugbegleiterin im hochgeschlossenen violetten Kostüm mit keckem Barett auf dem Kopf den Fahrschein und machte sich eine Notiz. Und jetzt haben wir 10.17 Uhr, und der Zug hat seine Reisegeschwindigkeit erreicht.

Der Erste-Klasse-Wagen ist ausgebucht, der gesamte Zug ist voll. Einen Platz in der zweiten Klasse für 865 Yuan (etwa 100 Euro) hätte man achtzehn Tage im voraus bestellen müssen, für die erste Klasse, die mit Tickets für 1383 Yuan (gut 160 Euro) in Wirklichkeit die mittlere Klasse ist, reichten drei Tage Vorlauf. Die Business-Klasse hätte 2927 Yuan, knapp 350 Euro, gekostet. Von den 224,5 Millionen Zugreisenden, die für die diesjährige Saison zum chinesischen Neujahrsfest erwartet wurden, dürfte sich nur ein Bruchteil diese Preise leisten können.

Wir sind also in eine lange Geschichte eingebettet. Draußen erkennt man von der Landschaft mittlerweile weniger als auf chinesischen Tuschebildern. Eine milchige Filmschicht gleitet vorüber, von der sich allenfalls hin und wieder die Linien von Hochspannungsmasten oder Baukränen abzeichnen. Die Provinz Hebei ist eine einzige weite Ebene mit viel Schwerindustrie, deren Luftverschmutzungswerte oft viel höher als die von Peking sind.

Um 11.07 Uhr erreicht der Zug seine erste Station: das 280 Kilometer entfernte Shijiazhuang, die Hauptstadt der Provinz, eine Stadt, die ihrerseits eigentlich erst durch ihren Bahnhof an einem Knotenpunkt Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts groß geworden war. Da hatte sich die Eisenbahn schließlich durchgesetzt, nachdem im neunzehnten Jahrhundert viele Chinesen nichts als ein „Großes Chaos" von der neuen Technik erwarteten und noch die Boxer in ihrem Kampf gegen die ausländische Moderne Stahlbrücken gesprengt und Bahnhöfe niedergebrannt hatten. Für den Republikgründer Sun Yat-sen dagegen bildete die Eisenbahn 1912 das Rückgrat seines nationalen Wiederaufbauplans, für den er ein 150.000 Schienenkilometer langes Schienennetz vorsah.

Eine psychedelische Erfahrung

Der Bahnhof, in dem wir jetzt halten, scheint weit außerhalb der Stadt zu liegen, so wenige Häuser sind in seiner Umgebung zu erkennen; er ist offensichtlich nur für Hochgeschwindigkeitszüge gebaut worden: Das gleiche Gewölbe aus strahlend weißen Stangen wie in allen neuen Bahnhöfen in China erwartet einen auch hier. Weit und breit kein Mensch. Für Städte wie Shijiazhuang ist den offiziellen Verlautbarungen zufolge die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke überhaupt erst eingerichtet worden; sie sollen dadurch enger mit der wirtschaftlichen Entwicklung der großen Metropolen verbunden werden. Ein paar Passagiere steigen aus, und die Durchsage vom Band sagt, dass Weiterreisende wegen des kurzen Aufenthalts den Zug nicht verlassen sollen, im Übrigen sei das Rauchen während der gesamten Fahrt verboten. Drei, vier Männer postieren sich an der Zugtür, um rasch herauszuspringen und an ihrer Zigarette zu ziehen. Nach drei Minuten fährt der Zug wieder an.

Zur Mittagszeit werden weitere Klassenunterschiede deutlich. In der zweiten Klasse muss man sich im Bordrestaurant, dessen Design demjenigen deutscher Bordrestaurants sehr ähnelt, für den Erwerb eines der angebotenen Mittagsmenüs anstellen, Garnelen Wantan für 25 Yuan zum Beispiel oder auch Portugiesisches Huhn auf Reis für 33 Yuan. Die Schlange der Wartenden ist lang. In der ersten Klasse werden dagegen einige der auf Plastiktellern arrangierten Menüs am Platz angeboten. Um 12.31 Uhr erreichen wir das 663 Kilometer von Peking entfernte Zheng-zhou, die Hauptstadt der Provinz Henan, mitten im Kerngebiet der chinesischen Kultur am Gelben Fluss gelegen; die Ursprünge der Stadt reichen 3500 Jahre zurück, sie soll in der Shang-Dynastie eine Metropole gewesen sein. Doch japanische Bombardements zerstörten einen Gutteil der Stadt, und jetzt sehen wir im Dunst nur ein paar Hochhaus-Rohbauten. Das Licht ist schon etwas südlicher, wärmer geworden.

Kurz danach ändert sich der Ausblick: Statt auf lehmigen Boden guckt man auf grüne Felder. Und so schnell, dass man Einzelheiten nicht aufnehmen kann, gleiten Dörfer vorüber, Agglomerationen von Baracken aus Beton, hin und wieder mit roten Schriftzeichen-Bannern davor als einzigem Farbtupfer. Mitten in einer Umgebung aus Rohbauten und unbefahrenen Schnellstraßen plötzlich ein Teehaus mit Pagoden und einer buddhistischen Statue an einem Teich - das einzige markante China-Signal bisher, doch es handelt sich offensichtlich um einen Freizeitpark. Ansonsten erzeugt ausgerechnet die Geschwindigkeit, mit der China seine Überlegenheit demonstrieren will, eine fast psychedelische Perspektive, aus der man von China nur noch Hochhausruinen hinter einem Staubschleier sieht. Immer wenn ein anderer Hochgeschwindigkeitszug entgegenkommt, gibt es am Ende einen Blitz.

Ineinander zerlaufende Brauntöne

Um 12.31 Uhr die ersten Erhebungen in der Landschaft, zedernbestanden. Eine Stunde später bleiben wir ohne weitere Erklärung für zwanzig Minuten in einem Bahnhof stehen, an dem kein Halt vorgesehen ist. Beim Weiterfahren Blicke auf Braunkohlekraftwerke, Fabriken und einen kleinen Tempel im Berg. Die Sonne kommt heraus. Freundliche Dorfhäuser mit Ziegeldächern, eine Siedlung mit zweistöckigen weißen Häusern. Wir überqueren einen sehr breiten Fluss, den Yangtse, und erreichen kurz darauf, nach 1136 Kilometern von Peking aus, Wuhan, die Metropole zwischen Chongqing im Westen und Schanghai im Osten, eine Schlüsselstadt der Revolution gegen das Kaisertum.

Der Bahnhof ist das gleiche menschenleere weiße Gittergewölbe wie an allen bisherigen Stationen. Ein Gutteil der Passagiere wechselt hier. Als Deng Xiaoping im Januar 1992 seine legendäre „Reise in den Süden" ebenfalls mit dem Zug unternahm, war er erst nach einem Tag Fahrt in Wuhan angekommen, wo er bei einem zwanzigminütigen Aufenthalt auf dem Bahnsteig den dortigen Parteisekretär ermahnte, weniger Sitzungen mit leeren Worten zu halten - eine Formel, die der jetzige Parteichef Xi Jinping übernimmt, ohne dass er zu erkennen gibt, worauf sie hinauslaufen soll. Wir fahren an wohlhabend wirkenden hellen Siedlungen mit roten Dächern vorbei und an parzellierten Wasserlandschaften.

Je weiter wir nach Süden kommen, desto pathetischer und revolutionärer wird das Programm auf dem kleinen Bildschirm über dem Gang. Wir sehen den neuen Zug über schwindelerregend kühne Brücken schweben, sehen dann prähistorische Lokomotiven auf Schwarzweißfilmen vorwärtskeuchen, sehen junge Genossen in alten Zügen einander in ihre aufrichtigen Augen schauen.

Das Hochgeschwindigkeitsprogramm war seit 2003 zuerst das Projekt des früheren Eisenbahnministers Liu Zhijun, der es zu einer ebenso patriotischen wie persönlichen Sache voller triumphaler Gesten machte, was ihm den Spitznamen „Großer-Sprung-Liu" eintrug. Nachdem bei einem Zusammenstoß zweier Hochgeschwindigkeitszüge im Juli 2011 vierzig Menschen umkamen, kam ans Licht, mit wie viel Korruption und skrupelloser Schlamperei dieser Anspruch einherging. Liu verlor sein Amt und seine Parteimitgliedschaft, und das prestigeträchtige Programm wurde für eine kurze Zeit unterbrochen. Wir erreichen die Provinz Hunan, die Heimat von Mao. Hinter den Fensterscheiben die ineinander zerlaufenden Brauntöne von schlammigen Anbautrassen.

Am Taxistand hat sich eine lange Schlange gebildet

In Changsha fängt ein Mann, augenblicklich nachdem er eingestiegen ist, an, sich im Gang zu rasieren. Einige der neu eingestiegenen Passagiere sprechen Kantonesisch. Auf dem Bildschirm laufen jetzt Szenen aus der Geschichte der Kommunistischen Partei. Es wird gebirgiger, die Tunnelfahrten häufen sich. Und dann am späten Nachmittag plötzlich eine schon nicht mehr für möglich gehaltene Schönheit. Eine Reihe scharf umrissener Bergketten, dahinter von der letzten Sonne des Tages beschienene Wolken, davor niedrige Wälder und ein Umspannwerk. Auf einem Platz zwischen Hochhäusern spielen ein paar Jungen Basketball. Bei uns im Zug geht eine Frau im rötlichen Kleid leise singend durch die Reihen.

Dann wird es, während wir durch die südliche Provinz Guangdong fahren, draußen dunkel, und drinnen richtet man sich auf die Ankunft ein. Die versprochenen acht Stunden Fahrtzeit werden überschritten, für ein paar Minuten halten wir noch einmal in irgendeinem leeren Bahnhof, aber nach neun Stunden, um 18.59 Uhr, treffen wir tatsächlich im nagelneuen gigantischen Bahnhof Guangzhou Süd ein. Deng Xiaoping hatte für diese Strecke vor 21 Jahren noch zwei Tage gebraucht, bevor er den Genossen einschärfte, ohne kapitalistische Modernisierung könne niemand Parteisekretär bleiben. Am Taxistand hat sich eine lange Schlange gebildet, aber es fährt auch eine U-Bahn in die Stadtmitte.

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