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FAZ:China ist kein Schwellenland

2013-10-29
 

Christian Geinitz, Peking 

 Ja, China scheint noch auf vielen Feldern unterentwickelt. Wirtschaftlich ist es dennoch auf dem Weg an die Weltspitze.

 

  Die chinesische Wirtschaft boomt: Jeden Tag wird das Land um 1,8 Milliarden Dollar reicher

Ein Mann möchte als Zwerg im Zirkus auftreten. Der Direktor ist verwirrt: „Aber Sie sind doch mindestens zwei Meter groß!" Der Bewerber wirft sich in Positur. „Ich bin eben der größte Zwerg der Welt." Mit China verhält es sich ebenso. Das Land macht sich viel kleiner, als es ist. Es passt nicht in die üblichen Kategorien von Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern und verdient deshalb eine eigene Bezeichnung. Man könnte China eine hybride Leitwirtschaft nennen. Die Volksrepublik befindet sich nicht auf der „Schwelle" zu Höherem, sondern sie steht in ihrer eigenen Klasse schon ganz oben. Sie ist das Ergebnis einer Kreuzung aus unterschiedlichen Wachstumstreibern und Entwicklungsgeschwindigkeiten, im Innern rückständig, insgesamt aber von eminenter internationaler Bedeutung.

In Krisenzeiten zeigt sich diese Sonderstellung besonders deutlich. Weder hat sich die Volksrepublik an der Banken-, Staatsschulden- und Wachstumskrise der Industrieländer angesteckt, noch leidet sie unter dem Kapitalabfluss und der daraus resultierenden Wachstumsschwäche der großen Schwellenländer. Im Gegenteil: Chinas Devisenreserven, die größten der Welt, sind im vergangenen Quartal so stark gestiegen wie seit zwei Jahren nicht. Jeden Tag wird das Land um 1,8 Milliarden Dollar reicher. Der Aufwertungsdruck auf den Renminbi hat noch zugenommen. Anleger strömen also nicht in den Dollar-Raum zurück, sondern wollen in die chinesische Währung investieren.

Privilegien als Entwicklungsland

China selbst sieht sich – ähnlich dem langen Kerl im Zirkus – als größtes Entwicklungsland der Welt. Diese Einordnung hat viele Vorteile, etwa um Unterstützung aus dem Ausland zu erhalten. Obgleich zum Beispiel Berlin seine Hilfen offiziell eingestellt hat, fließt deutsches Steuergeld nach Fernost. Nach den jüngsten Zahlen der Bundesregierung rangiert China bei der Öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) ganz oben in der Liste der Empfängerländer. Wichtiger ist für Peking, dass es als Entwicklungsland Privilegien genießt. Etwa im Klimaschutz, wo die Dritte Welt geringere Auflagen erfüllen muss als die Erste.

Zählt China eher zu den Geber- beziehungsweise den Industrieländern? Man sollte es meinen, schließlich reicht Peking inzwischen mehr Entwicklungshilfe aus als die Weltbank. Das Land ist nicht nur die führende Handelsnation des Planeten, sondern auch der mit Abstand wichtigste Industriestandort. Gegen diese Kategorisierung spricht aber die geringe Wirtschaftsleistung je Einwohner. Selbst kaufkraftbereinigt rangiert die Volksrepublik nur auf Platz 92, steht also auf einer Stufe mit den Malediven und Surinam. Trotz bewundernswerter Erfolge in der Armutsbekämpfung leben Millionen Menschen am Rande des Existenzminimums. Insgesamt ist die Volksrepublik nur ein Land mittlerer Einkommen, weshalb sie auch nicht zu den „neuindustrialisierten Staaten" wie Hongkong, Taiwan, Singapur oder Südkorea zählt.

 

Wachstumsweltmeister trotz aktueller Abschwächung

Dann ist sie also doch ein klassisches Schwellenland? Nein, dafür ist China viel zu stark. Es ist die zweitmächtigste Volkswirtschaft und die reichste dazu, wenn man die Devisenreserven als Maßstab nimmt. Würde man China eine „aufstrebende Wirtschaft" nennen, dann wäre der Handelskonzern Walmart – das Unternehmen mit den zweithöchsten Umsätzen – ein „aufstrebender Betrieb". Und Bill Gates als zweitreichster Mensch wäre ein „aufstrebender Sparer". Das einzige, wohin China noch strebt, ist an die Spitze. 2016 dürfte sein Bruttoinlandsprodukt das der EU hinter sich lassen, 2017 auch die Wirtschaftsleistung der Vereinigten Staaten. Wachstumsweltmeister ist man längst und wird es trotz der aktuellen Abschwächung bleiben. Das Land trägt mehr als ein Drittel zum globalen Wachstum bei – fast doppelt so viel wie alle Industrieländer zusammen.

Das ist das Neue an der hybriden Leitwirtschaft China: Aus der Mikrobetrachtung heraus wirkt sie in vielen Feldern unterentwickelt. Dazu gehören neben den geringen Pro-Kopf-Werten auch die Defizite an den Waren- und Finanzmärkten, in den Institutionen, in Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und Umweltschutz. In seiner geballten Kraft aber gibt China immer mehr den Ton an. Es hat für die Weltwirtschaft eine „Systemrelevanz" erreicht wie nie zuvor ein nichtwestliches Land in der Moderne. Die alten Mächte wissen nicht, wie sie mit diesem Phänomen umgehen sollen. Ein wichtiger erster Schritt wäre, Chinas Sonderweg viel mehr Aufmerksamkeit zu widmen und Abschied zu nehmen von ausgeleierten Begrifflichkeiten, die in der neuen Weltordnung überholt sind.

Inhaltlich ist es falsch, Chinas Selbstverkleinerung hinzunehmen und das Land aus seiner nationalen und internationalen Verantwortung zu entlassen. Peking ist reich genug, um sich jede Hilfe einzukaufen, die es zur Armutsbekämpfung, zur regionalen Entwicklung oder für den Umweltschutz braucht. Auch muss es sich an die internationalen Regeln halten, wenn es auf dem Spielfeld weiter ganz vorn mitstürmen will. Das gilt für den Klimaschutz genauso wie für die Marktöffnung oder für die Bekämpfung von Patentverletzungen. Nur so kann China ein verlässliches und geachtetes Mitglied sein – im Club der Zwerge und der Riesen.

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