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Der chinesische Traum

2014-03-25

 

Der neue chinesische Präsident Xi Jinping besucht in diesen Tagen Europa. Neben Brüssel wird er Gespräche in Berlin und Paris führen. Während für China die EU und vor allem Deutschland als größte europäische Wirtschaft strategische Bedeutung besitzen, schwankt Europas Haltung zwischen Angst und Bewunderung. Ersteres ist nicht begründet. Worauf müssen wir uns einstellen, wenn die neue chinesische Regierung vom „chinesischen Traum" als politisches Ziel spricht?

Sie hat gleich nach Übernahme der Macht vor einem Jahr einige positive wie negative Akzente gesetzt.

Einerseits hat sie deutlich gemacht, dass sie die Politik der Öffnung und Reform konsequent fortsetzen will und einschneidende Reformen angekündigt – in der Wirtschafts- und Umweltpolitik, aber auch in Kernbereichen der Gesellschaftspolitik. Andererseits wird im Innern die Kontrolle über das Internet und der Druck auf Regimekritiker verschärft. Und gleichzeitig präsentiert sich China gegenüber seinen Nachbarn, insbesondere im Streit mit Japan um die Diaoyu/Senkaku-Inseln im ostchinesischen Meer, mit einer von vielen als aggressiv empfundenen Entschlossenheit.

Angst vor wirtschaftlichem Rückfall

Wer das politische Handeln der heutigen Machthaber in Peking verstehen will, muss sich erinnern, dass China bereits um 1830 mit einem Drittel des globalen Bruttoinlandsprodukts die größte Wirtschaftsmacht der Welt gewesen ist.

Was folgte, war ein durch Selbst- und Fremdverschuldung verursachter Abstieg des Reichs der Mitte: Opiumkriege, Boxeraufstand, Revolution, japanische Invasion, Bürgerkrieg sowie Mao-Kampagnen nach Gründung der Volksrepublik China. Nach 150 Jahren Abwesenheit von der Weltbühne war China 1978, als Deng Xiaoping seine Reform- und Öffnungspolitik proklamierte, physisch und psychisch am Boden. Allein in den 60er Jahren starben fast 60 Millionen Chinesen an Hunger. Nie wieder Abhängigkeit, nie wieder Demütigung durch fremde Mächte – diese Überzeugung eint heute alle Chinesen. Was dann seit Deng Xiaoping folgte, ist ohne Vorbild in der jüngeren Menschheitsgeschichte.

Die Reformleistungen der letzten Generation stehen auf dem Spiel

China hat erfolgreich den Hunger bekämpft – ohne Hilfe von außen. Hunderte von Millionen Menschen wurden aus der Armut befreit, der Lebensstandard hat sich für 350 Millionen signifikant verbessert. Moderne Infrastruktur – Autobahnen bis in alle entlegenen Teile des Landes, Hochgeschwindigkeitszüge zwischen allen Metropolen, effiziente Bahnhöfe und Flughäfen in allen neuen Ballungszentren – diese Investitionen haben hervorragende Rahmenbedingungen für die Wirtschaft geschaffen, ganz im Gegensatz zum großen Nachbarn Indien. Und mindestens ebenso wichtig: Man spürt eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung, vor allem bei jungen Menschen, die sagen, dass ihr individueller Freiheitsraum größer ist als jemals zuvor.

Dennoch weiß die neue Führung, dass die Reformleistungen der letzten Generation auf dem Spiel stehen. Warum? Weil die Entwicklung ungleichmäßig, unkoordiniert und nicht nachhaltig war. China läuft Gefahr, Opfer seines eigenen Erfolgs zu werden. Der chinesische Traum ist für ganz viele Menschen noch sehr weit entfernt. Es leben immer noch ebenso viele Menschen in bitterer Armut wie in moderatem Wohlstand, der Rest dazwischen. Immer mehr Menschen wird klar, dass sie selbst bei stabiler politischer und unverändert dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung zu Lebzeiten nicht an diesem Wohlstand werden teilhaben können. Möglicherweise nicht einmal ihre Kinder. Das schafft Frustration.

Regierung versucht Proteste im Netz zu zensieren

Hinzu kommen als Folge der viel zu schnellen Urbanisierung schwere Belastungen für die Lebensqualität – schlechte Luft, ungenießbares Wasser, mangelnde Sicherheit am Arbeitsplatz oder verstopfte Straßen. Und eine endemische Korruption, die sich als Krebsgeschwür der Gesellschaft erweisen könnte.

 

Dies äußert sich in einer schnell wachsenden Anzahl von Protesten. Sie sind meist örtlich begrenzt und richten sich noch nicht gegen das politische System, aber ihre Zahl wächst exponentiell. Der junge Mittelstand artikuliert sich zunehmend selbstbewusst in den neuen sozialen Medien, seine Forderungen finden blitzartige Verbreitung. Sie richten sich an die Adresse von Lokal-, Provinz- und Zentralregierungen. Durch diese Netzwerke – es gibt mittlerweile mehr als 600 Millionen Internetbenutzer, also fast die Hälfte der chinesischen Bevölkerung – entsteht eine neue, postdemokratische Form politischer Partizipation. Auch wenn die Regierung versucht, dies durch massive Zensur zu kontrollieren – das Netz ist bereits zu einem gesellschaftlichen Katalysator geworden. Das ist nicht aufzuhalten, zumal China das Netz aus wirtschaftlichen Gründen dringend braucht.

Nachhaltigkeit wird zur zentralen Herausforderung

Allerdings sollte diese wachsende Kritik nicht mit einer Demokratiebewegung nach westlichem Vorbild verwechselt werden. Für eine solche gibt es in China kaum historische, philosophische oder politische Anknüpfungspunkte. Der 2500 Jahre herrschende Konfuzianismus hat ein Ordnungssystem geschaffen, in dem Familie und staatliche Führung die wichtigsten Bezugspunkte sind. Das Individuum mit seinen bei uns aus der Aufklärung hervorgegangenen Rechten ist demgegenüber nachgeordnet. Das dürfte sich mit zunehmendem Wohlstand auch in China ändern, aber nicht über Nacht.

Zur Wahrung der gesellschaftlichen Stabilität im Lande muss die neue Führung innen- und wirtschaftspolitisch in der nächsten Dekade zwei große Reformvorhaben bewältigen: Sie muss erstens den Sprung schaffen von quantitativem zu qualitativem Wachstum. Nachhaltigkeit wird zur zentralen Herausforderung.

 

( Autor:Michael Schaefer ,2007 bis 2013 deutscher Botschafter in China und ist heute Vorstand der BMW-Stiftung)

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